Sprache ist Kultur Ein Vortrag von Ass. Prof. Dr. Heinz Günnewig, Universität Luxembourg Seite 2 von 2
Ene und mene und mu
ich mach jetzt meine Augen zu
lauft jetzt weg, lauft schnell weg
und sucht euch ein Versteck
ich zähle nun bis sechs
dann kommt die böse Hex´
eins, zwei, drei, vier, fünf und sechs
»Ich komme«
Verse sind Wanderer zwischen den Kulturen, sie springen über Mauern und schlüpfen durch jeden Maschendraht. Sie machen keinen Unterschied zwischen groß und klein, arm und reich, Religion und Ansehen,
eine klassenlose Gesellschaft von denkwürdigen, respektlosen gegen Zensur und Bevormundung, deftigen, heiteren und zähen Muntermachern, Sprache zu wagen. überraschend und beruhigend wird für
Kinder unterschiedlicher Herkunft die Entdeckung der sie verbindenden Gemeinsamkeiten der Gefühle, Hoffnungen, Sehnsüchten, Verspieltheiten in den Versen sein. Verse fordern zum Tanz auf, laufen im Kreis
lauthals mit, sitzen still in der Hocke und warten, in sich versunken, bis zum sehnlichst erwarteten neuen Aufbruch. Verse sind wenig zimperlich, können verblüffend ordinär sein, wie ein krachender
Pups im Kreis von Feinsinnigen (Ernest Bornemann, 1974).
Im Zoo auf ´m Klo
Die Giraffe ist ja soooo gemein
schaut von oben in das Klo hinein
Fängst du lauthals an zu schrein
krümmt ´ne Schlange sich ums Bein
Springst du auf und willst gehn
Zwickt ´ne Spitzmaus deine Zeh´n
Willst du nur noch fort von hier
Steht ein Nilpferd vor der Tür
Ohne mit der Wimper zu zucken, sind Große der Literatur mit ihnen Koalitionen eingegangen, Brecht und Eliot, Lorca und Grass. Verse drängeln nicht wie das Rentner-Ehepaar an der Aldi-Kasse. Sie warten
geduldig auf solche, die sie aufgreifen. Verse haben etwas Bezwingendes, ohne Zwang auszuüben, haben etwas Spielerisches, in dem die Ernsthaftigkeit auf leisen Sohlen mitläuft. An ihrem anarchischen
Humor scheitert jede Ideologie. Verse machen immun gegen reaktionäres Geschrei, unterlaufen die Rumpfsprache des infantilen Tweet-Gerülpse und die universalisierende Tortur des Geschwätzes.
Eine Poesie, die schalkhaft, augenzwinkernd, selbstironisch heranschleicht, ist eine wirksame Waffe gegen Allmächtige, deren Lügen sie verwirft und denen sie unerschrocken die Wahrheit sagt.
Studierende der Pädagogikwissenschaften der Universität Luxembourg haben in einer Erhebung zum Umgang mit mündlich vermittelten literarischen Formen festgestellt, dass geringer Schulerfolg,
Migrationshintergrund und der Mangel an prä- und paraliterarischen Erfahrungen miteinander einhergehen (Romain Sahr, 2012).
Nicht wenige Erwachsene, die ihre Kindheit hinter sich gelassen haben, sind der Ansicht, dass Kinderverse, Reime und Gedichte überflüssige Spielereien sind. Wer so denkt, hat nicht nur wenig,
sondern keine Ahnung von kindlicher Sprachentwicklung. Es gilt frühzeitig, sehr früh, auf dem Wickeltisch, Kinder eine Sprache genießen zu lassen, die Körperbewusstsein mit dem Wohlklang
und dem mitnehmenden Rhythmus von Sprache verbindet. Reime und Gedichte sind die ersten und einzigen poetischen Formen, deren Nutzen auf der Hand liegt. Für junge Kinder ist noch alles unentdeckt: Das Gesicht,
die Finger, der Körper, die Tiere, Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Wasser, Feuer, Sand, Wetter, die Jahreszeiten. Reime katapultieren Worte dorthin, wo sie sonst nie landen könnten und helfen damit auf
gelöste Weise dem Kind, sich in der Welt sprachlich einzurichten. Essen, Einschlafen, Fragen, Gehen, Zanken, Kuscheln, Zählen, Schaukeln sind Tätigkeiten, die im Reim auf eine kunstvolle Weise zur
Sprache finden.
Wir klatschen in die Hände
wir trommeln auf den Tisch
wir trampeln mit den Füßen
das klingt ganz fürchterlich
Mit Bewegungen des ganzen Körpers prägt sich das Gesprochene ein, Rhythmus und Wohlklang lassen Distanz, ja, Angst vor einer anderen Sprache gar nicht zu. Aristoteles hatte vom »Körper« der Gedichte
gesprochen, von dieser »sinnlich - leibhaftigen Einübung ins Menschsein«. Alltägliches Sprechen von Kindern ist immer spontan, oft temporeich, turbulent; »ein Lexikon voller Skripts«, sagt die
Sprachwissenschaftlerin Katherine Nelson. Verse hingegen haben alle Komponenten, aus denen Sprache gefügt ist: Artikel, Nomen, Pronomen..., Konjugiertes, Dekliniertes, Komparative, Superlative, Fragesätze,
Ausrufe ...- und dies dann in grammatikalischer Korrektheit. Verse vereinen die Vitalität der gesprochenen Sprache mit der schriftsprachlichen Präzision der Literatur.
Silvia Hüsler hat mit ihrer Arbeit: Verse, Lieder und Reime-traditionelle sprachliche Bildung für die Kleinsten quer durch viele Sprachen, die sie 2011 im Auftrag des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend für das Deutsche Jugendinstitut zusammengestellt hat, die fundamentale Bedeutung der poetischen Mini-Texte für den täglichen Bedarf überzeugend dargelegt.
Verse sind die besten Vorbereiter für die schwierigen Laut-Erkennungsprozesse beim Lesenlernen und ebenso die idealen Leselust-Erhalter und -Beförderer neben den oft arg beschränkten und
beschränkenden Leselerntexten. Schon Dreijährige können zu eifrigen Sammlern ihrer Verse werden, wenn sie die kurzen Sprachstücke in ein ( in ihr?) Handy sprechen, die eigene Sprachproduktion
sich anhören, das darin Vergessene, undeutlich Gesprochene bemerken, es erneut versuchen und sich freuen, ihr Repertoire anderen zu Gehör zu bringen. Und so können Kinder, zu jeder Zeit und an jedem Ort,
das Gelernte wieder heranholen-und sich am eigenen ´Lernfortschritt´ erfreuen.
Verse bremsen vor Überstürzung und Überforderung und führen in Bereiche, in denen sich Sprache jedem testenden Zugriff entzieht. Kinder suchen nicht unbedingt nach Gedichten. Sie finden sie
zufällig, wenn andere sie ihnen nahe bringen. Es sind die Rhythmen, die Kinder faszinieren. Schon Plato war der Überzeugung, dass nichts tiefer in die menschliche Seele eindringt als Rhythmen, die dann
auch noch »gutes Benehmen« zur Folge hätten, sagt der alte Grieche. Überdies gilt Poesie als maßgebliches Kriterium der Alltagsgestaltung. In einer Zeit der technologischen Aufrüstung, in der
oftmals Sprache in Fetzen, in brachialer Dümmlichkeit und ungebremsten Anzüglichkeiten in Kinderköpfe hineingekippt wird, gelingt es durch Verse, Waffenruhe in den vom alltäglichen Getöse
umrauschten kindlichen Seelen herzustellen. Verse sind unwiderstehliche und treue Wegbegleiter, mit denen Kinder in einen bezaubernden Kontakt mit Literatur kommen. Gerade mit Versen nähern sich Kinder auf
Samtpfoten der literarischen Welt, einer Welt, in der viel mehr zu lernen ist als im Alltäglichen. Wie in einer Nuss aufbewahrt, liegen die Geschichten für die kommenden Jahre bereit.
Es war einmal ein Krokodil
das fraß sehr viel
zuerst
ein fettes Schwein
ganz
mit Ringelschwanz
dann
eine bunte Kuh
die machte nur noch einmal
Muuuh
dann einen Elefant
mit einem rotem Band
Krokodil schluckte und würgte
und schmatzte
bis es platzte
Schwein und Kuh und Elefant
blieben unversehrt
nur etwas
verschmiert
Zu den bekannten Kindergedichtsammlungen, die seit 2011 die Internationale Jugendbibliothek München mit steigendem Erfolg in den Arche-Kalendern herausgibt und die in klug konzipierten
Ausstellungen in mehreren Ländern Europas zu sehen waren, wurde 2013 an der Universität Luxembourg eine, auch wissenschaftlich begleitete, Initiative auf den Weg gebracht, mit der den fundamentalen Notwendigkeiten bei der Entwicklung
jedweder Kindersprache,
der sich verbreiternden Multilingualität und kultureller Diversität Rechnung getragen werden soll.
Vor dem Sprechen ist Denken, d.h. Kinder erwerben mithilfe ihrer Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten Wissen, auf dem die vom engsten Umfeld mitgeteilte Sprache aufsitzt. Diese Sprache gilt es aufzunehmen, zu
fördern und zu pflegen. Sie gibt den Kindern Halt in der Welt und zu den Menschen.
➸ Für die Institutionen der Bildung bedeutet dies, die Wahrnehmungen und das Tun der Kinder in den Mittelpunkt ihrer Aneignung von Welt zu stellen, denn »allein das Leben belebt die Welt«. Dabei ist die aktuell
verfügbare Sprache der Kinder aufzugreifen, spontan, ungebunden, reich, authentisch.
➸ In der Wahrnehmung und im Tun mit z.B. Kastanien, Blättern, Äpfeln, Federn, Schmetterlingen, Katzen, Kuchen, Kleidern, Pflaster, Feuer, Spielzeugen, Kuscheltieren u.v.a.m. wird ein Vorwissen und werden
Fähigkeiten erworben, die für jede Sprache entscheidend sind. Kindheit misst sich in Geräuschen, Gerüchen, Augenblicken, Berühren, Schmecken, Bewegen und bewegenden Handlungen, ausgiebig,
bevor das Dunkel der Vernunft hineinwächst.
➸ Mit Spielzeugambulanz können frühkindliche Erfahrungen mit den lädierten, verwundeten Begleitern zum Vergnügen und Nutzen aufgegriffen werden. Auf dem Teppich in einem Kindergarten oder auf dem
runden Tisch im 1. Schuljahr könnten die geduldigen, täg- und nächtlichen Anhänger zusammen sitzen und von den stolzen Besitzerlein mit Namen und Schicksal (geschenkt, verloren, wiedergefunden,
beschimpft, gestreichelt, repariert, in die Ecke gefeuert, um Verzeihung gebeten, gewaschen, gebürstet, rumgeschleppt ...) vorgestellt werden. Emotional hochbesetzte Sprache wird wahrgenommen, echt und mit
völliger Hingabe, unvollkommen und entwicklungsgemäß »fehlerhaft«, aber authentisch.
➸ In Bildern gilt es Erfahrungen aufzubewahren, einer verweilenden Betrachtung zur Verfügung zu stellen und um neues Weltwissen zu erweitern. Erneut kann an dokumentierten Erfahrungen mit dem Geliebten
angeknüpft werden und können gemeinsame Erlebnisse zur Sprache kommen (das Stofftier, in dem die Batterie ihren Geist aufgegeben hat; die Puppe, der die Haare ausgekämmt wurden; der Kasper,
dem die Nase abgebrochen wurde, ...). Mit Ambulanz wird ein Erfahrungsbereich geöffnet, vor dem Kinder Ängste haben und die sie nun in ernsthaftem und kreativem Spiel bewältigen. Mit
Geisterstunde wird ein Ereignis im Jahresrhythmus aufgegriffen. Und wieder gilt es zuerst, wirkliche, handgreifliche Erfahrungen zu machen. Kleine, große, schwere, runzlige, untragbare, angefaulte, harte,
... Kürbisse werden herangeschleppt und aufgestellt, ausgehöhlt, getrocknet. Kerne werden gezählt, im Fruchtfleisch gematscht, Zugänge, Fratzen, Zähne ausgeschnitten. Die
Kürbishöhle wird mit Gruselfiguren besetzt, beschworen, bespielt, besungen. Ängste werden gebändigt, Mut und Kraft genossen. Die Handlungen sind fundamentales »Vorspiel« für die
Internalisierung jedweder Sprache.
➸ Zu den Bildern, denen Handlungen mit den wirklichen Dingen vorweggegangen sind, gesellt sich nun eine Sprache hinzu, die als Bildungssprache der Institutionen definiert ist.
➸ Die poetische Sprache, die Kindern vorgesprochen wird, die Kinder nachsprechen, ist durch Rhythmus und Reim prädestiniert zum Behalten und liefert Muster zum Transfer in weitere Situationen. Kinder
spüren sofort, dass dies eine Sprache ist, die keine Angst macht, die sich aus den täglichen Benutzungen heraushebt, aber von Nutzen ist, die schwebt, Fehler mitnimmt und verfliegen lässt.
Denn es gibt immer ein nächstes Mal. Auf krampfhaftes Einüben von irgendwelchen Satzmustern kann verzichtet werden. Unter sprachstruktureller Hinsicht können Wörter erkannt werden,
die als Stützwörter der jeweiligen Spielsituation fungieren (s. Spielzeugambulanz), und durch ihre syntaktische Einbettung als exemplarische Muster für ähnliche Situationen gebraucht
werden können. Es werden kindliche Tätigkeiten genannt (s. Geisterstunde), die in weitere Situationen übernommen von Nutzen sind (z.B. alle singen, wir fangen dich, wir bringen dich ins...).
Artikel und Strukturwörter sind durch die situative Notwendigkeit legitimiert.
Jean Paul, neben Goethe, Schiller und Kleist einer der großen Vier der deutschen Sprache, hat vor über 200 Jahren den entscheidenden, entwicklungspsychologischen Einfluss in der Erziehung mit Sprache hervorgehoben.
Unmerklich, zwanglos, angstlos sickert durch Reime, Verse und Gedichte, auf informelle Weise die hochkomplizierte Grammatik einer Sprache in die Köpfe der Kinder ein, z.B. auch die der deutschen Sprache, von der Mark Twain
sagt, sie wäre von einem Irren erfunden worden. Vladimir Nabokov, der auch ein kühler und schneidender Literaturkritiker sein konnte, legt allen ans Herz, dass gegen eine spröde, ausgetrocknete Welt nur zu gewinnen ist mit der Freiheit der Verse.
Um in die Türme der dramatischen und epischen Kinderliteratur zu gelangen, bedarf es weiterer Schlüssel - und viel Geduld. Denn» Literatur stellt sich der Welt. Aber langsam. Unendlich langsam«, sagt der Büchner Preisträger Rainald Goetz. Verse sind kundige und geduldige Lotsen in diese Welt.
Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer fordern »besonders gute Erzieher«:
➸ Die wissen, dass für Kinder gilt, mit allen Sinnen vor allem die wirkliche Wirklichkeit zu erfassen, so wie es Donata Elschenbroich in »Weltwissen der Siebenjährigen« angemahnt hat;
➸ Die kommunikativ sensibel sind, um auf das unvollständige, ungewöhnliche, überraschende Denken der Kinder und deren Versuche, dies sprachlich in den Griff zu kriegen, geduldig und ermutigend einzugehen;
➸ Die literarisch gebildet und überzeugt sind, dass gerade Literatur als Medium der Existenzerkundung durch ihre einmalige Langsamkeit für Kinder notwendig ist, die Welt zu verstehen, so wie es in Luxembourg »Mit Versen in die Welt« für junge Kinder begonnen wurde;
➸ Die die Kraft aufbringen, digitalen Medien, die durch ihre überwältigende Schnelligkeit das Denken der Kinder verwirbeln, Zügel anzulegen und zur Entwicklung von Klugheit nutzen.
Wiederkehrende Beteuerungen, besonders aus den Reihen der Bildungspolitik zur absoluten Wichtigkeit frühkindlicher Bildung und literarischen Früherziehung genügen nicht. Es müssen mit den Verantwortlichen, die es täglich mit Kindern zu tun haben, praktikable Lösungen gefunden und diese, zusammen mit Kindern, zu Innovationen ermutigt werden.
Poesie ermöglicht erwas von dem zu erkennen, was Abgestumpfte und Abstumpfende nicht mehr wahrnehmen können; sie erschafft Fragen, schärft die Sinne für die Zukunft – und ist daher unentbehrlich.
In Erwartung der Kinder von Zuwanderern könnte eine allgemeine Bewusstmachung grundlegender kindlicher Denk- und Sprachentwicklungen einer Integration nur förderlich sein. Über dem Türrahmen der Buchhandlung »Shakespeare and Company« von Sylvia Beach Whitman in Paris ist zu lesen: »Sei nicht ungastlich zu Fremden, sie könnten verkleidete Engel sein«.