Anmerkung zu einer Entwicklung, in der junge Kinder »Weltweisheit« verlieren
Ass. Prof. Dr. Heinz Günnewig (Universität Luxembourg)
Am 14. Juli 2016 konnte einem Artikel in der »Frankfurter Allgemeine« entnommen werden, dass der Bildungsausschuss des
Bundestages einen kurzen Bericht »Digitale Medien in der Bildung« verfasst hat, in dem die Chancen der Lerntechnologien ausgebreitet
und die Risiken verschwiegen werden. Als wichtigste Referenz (!) wird die Branchenlobby Bitkom (!) aufgeführt. Der letzte Schrei der
digitalen Bildung ist demnach nicht mehr der kollektive Mooc sondern ein virtueller Tutor, der Lernende lebenslang persönlich
begleitet und beschult. Der digitale Golem wird nicht mehr abzuschütteln sein, Entmündigung ist das wirtschaftlich verfolgte Ziel.
Die schlängelnden Krakenarme reichen bis in die Geräte der jungen Kinder, mit denen die Welt hin- und hergewischt werden kann.
Er abschalten, sagt eine ARD Stimme, und der Kleine schaut uns Zuschauer unverwandt mit Silberblick an. Der samtweiche Fernseh-Spot:
Schau hin, was Dein Kind mit Medien macht! soll auf die nicht sehr förderlichen Wirkungen von digitalen Medien hinweisen. Und schwuppdiwupp
äußern sich wiederum politisch Umtriebige mit solch dickbäuchigen Sätzen wie »Eltern müssen ihre Kinder im digitalen Zeitalter an die Hand
nehmen« und im gleichen Atemzug wird eingeräumt »es fehlen uns gute Schulungsmaßnahmen«. Was ist mit solch einem Geschwabbel anzufangen?
So dokumentiert sich nachhaltig potenzierte Ahnungslosigkeit. Es ist doch vor allem zu fragen: wie kann jungen Kindern im digitalen Zeitalter
der Verstand bewahrt werden, wenn ihnen das Denken mehr und mehr in seichten Bahnen ermöglicht wird? So ist z.B. dem Bilderbuch »Alle Vögel
sind schon da« aus der ersten »Multimedia-Bibliothek für Kinder« ein Code beigefügt, mit dem »augmented reality« verheißen wird.
Gezwitschere, Geschnattere, Geflattere kann über app eingespielt werden, vorgegaukelte Realitätserfahrungen im Disney-Format. Auch die
erwachsenen-sprachlichen Erläuterungen dokumentieren das Ende von Erkenntnisprozessen und sind in ihrer Kompaktheit für Kinder kaum zu
verstehen. Die so versprochene spielerische Ergänzung hat statt konzentrierter Befassung fahriges Herumspielen zur Folge.
Kinder- und Jugendärzte, ist einer Sendung von Deutschland Radio Kultur vom 20. Juli 2015 zu entnehmen, schlagen Alarm, warnen
vor ständiger Zerstreuung durch digitale Medien, sehen eine neue Sucht, die bisherige Süchte um Dimensionen übersteige.
Christian Montag, Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm, bestätigt die Frage der SWF-Moderatorin
»Reden die noch miteinander?«, weist auf einen Verfall sozialer Kompetenz hin und plädiert für digitale Auszeiten.
Tröstlich kann auch der Bericht der neuesten OECD-Studie aufgefasst werden, nach dem die Auswirkungen von Informationstechnologien im Unterricht auf
die Leistungen von Schülern »bestenfalls als gemischt« anzusehen sind.
Die Mahnungen von Medienwissenschaftlern, Ärzten und Psychotherapeuten vor einer Beeinträchtigung kindlicher Entwicklungen durch eine unbedachte und
grenzenlose Digitalisierung werden häufiger (Alexander Markowetz, Gerald Lembke/Ingo Leipner, Manfred Spitzer, Bert te Wildt), kompromissloser
(Digitaler Burnout; Die Lüge der digitalen Bildung; CYBERKRANK! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert; Digital Junkies), deutlicher
(»Wir brauchen mindestens in Kindergarten und Grundschule digitalfreie Zonen;« »Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter«;
»Die Stirnhirnreifung liegt im Kreuzfeuer der Beschleunigungen und überreizungen durch die elektronischen Medien«). Unmissverständlich ist allen
Veröffentlichungen zu entnehmen, dass nicht jeder technologische Fortschritt auch ein Fortschritt für Menschen ist. Unter dem Eindruck, es muss in
Sachen »Sprache lernen« schnell etwas geschehen, werden neuerdings Kultusministerien einzelner Bundesländer dergestalt aktiv, dass Erziehungsinstitutionen
nun mit digitalen Medien aus- und aufgerüstet werden sollen, um mit der Schnelligkeit des Mediums möglichst rasch zum Erfolg zu kommen.
Die fundamentale Entwicklung der gesprochenen Sprache mit all ihren zuträglichen Parametern bleibt dann wieder auf der Strecke. Fehlerlose
Schriftsprachlichkeit ist dann die Maßgabe.
Sherry Turkle, die seit über 30 Jahren Soziologie und Psychologie am Massachusetts Institute of Technology lehrt, hat 2012 zur Veränderung
unserer Kommunikation durch die digitale Technik der Laptops, Tablets, Smartphones geschrieben: »Kommunikation von Angesicht zu Angesicht
entfaltet sich langsam. Sie lehrt uns Geduld. Wenn wir digital kommunizieren, erlernen wir andere Verhaltensweisen. Wir erwarten schnelle
Antworten. Damit wir sie bekommen, stellen wir nur noch einfache Fragen. Wir lassen unsere Gespräche verdümpeln, selbst bei wichtigen
Angelegenheiten. Mit Shakespeares Worten könnte man sagen, wir sind an dem Stoff, der uns ernährt, versiecht. Wir verlernen über uns selbst
nachzudenken, Gespräche werden vermieden«. Turkle schließt den Artikel mit: »Schauen Sie hoch, schauen Sie einander ins Gesicht, beginnen
Sie sich zu unterhalten.« Auch in ihrer Veröffentlichung »Verloren unter 1000 Freunden« befürchtet sie eine »seelische Verkümmerung« in der
digitalen Welt. Nun darf man wissen, dass Sherry Turkle nicht zu der Truppe der praxisfernen WissenschaftlerInnen, gehört, die mit einem Artikel
über bisherige Erkenntnisse flott drüberhoppeln, sondern diejenige ist, die überzeugend dargelegt hat, dass die Maschine Computer in unser Denken,
unsere Gefühle, unsere Identität eingreift. Turkle hat sechs Jahre lang Kinder, Jugendliche und Erwachsene in deren Umgang mit Computer begleitet,
Gespräche geführt, notiert und dann den Klassiker: Die Wunschmaschine – Vom Entstehen der Computerkultur – veröffentlicht.
Das war 1984. Sie weiß also, wovon sie schreibt und konnte deshalb ihrem Artikel von 2012 den so schlichten Titel geben: Wir müssen reden. In Bert te Wildts »Digital Junkies»
schildert der Arzt und Psychotherapeut zwei Szenen, die ihm von der Leiterin eines Kinder- und Jugendzentrums übermittelt wurden. Während einer
Geburtstagsfeier(!) sitzen zehn Mädchen zusammen, schauen auf ihr Handy, das Geburtstagskind ebenso. Auf einem Spielplatz spielen Dreijährige
Fangen. Mitten in der Verfolgungsjagd bleibt ein Kleiner stehen und fummelt sein Handy aus der Hosentasche. Als er es in der Hand hat, verebbt der
Klingelton. »Alle sind voneinander abgelenkt«, schreibt te Wildt.
Allen Veröffentlichungen zur Wirk- und Unwirksamkeit der digitalen Medien ist zu entnehmen:
➾ der Ablenkungsturbo der Smartphones, Laptops, Tablets beginnt, einer Bugwelle vergleichbar, in sich verkürzenden Zeiteinheiten, Aufmerksamkeit
und Konzentration zu verhackstücken, zu verwirbeln und Hunger auf weitere Krümelchen auszulösen;
➾ die pausenlosen Unterbrechungen und ständigen Ablenkungen durch die digitalen Assistenten führen zu sich verstärkenden Aufmerksamkeitsstörungen.
Die allgemeinen Konsequenzen, wie sie Alexander Markowetz, Informatikprofessor der Universität Bonn, mit »Wandel managen, Herausforderungen angehen,
Umgang meistern, Begrenzen ausufernder Selbstdarstellungen« vorschlägt, sind von einer seltenen dehnbaren Unbestimmtheit. Sich von den permanenten
Begleitern jedoch zu trennen, ist weder realistisch noch angebracht. »Welches Ausmaß und welche Auswahl ist gesund?« fragt die Kronzeugin der
Computerkultur Sherry Turkle. Es ist schon aufschlussreich, dass in allen o.g. Veröffentlichungen, verfasst von Personen, die internetkundig sind,
einhellig und wiederholt darauf hingewiesen wird, wie grundlegend wichtig es ist, dass Kinder sich mit der wirklichen Wirklichkeit auseinander setzen sollen.
»Wenn wir auf die Welt kommen, dann sind wir zunächst vor allem körperliche Wesen. Dann leben wir vor allem im Diesseits der fassbaren realen Welt.
Damit sie in ihrem Körper ankommen, müssen wir unsere Kinder erst einmal richtig in die Welt einführen, die man anfassen kann. Sie müssen dadurch lernen,
alle ihre Sinne zu bedienen. Und dann geht es über die Sinne erst einmal darum, das Seelenleben, die Gefühle und Phantasien zu entfalten. Dies geht am
besten über analoge Medien. Es geht darum, eine starke Innenwelt aufzubauen, bevor sie auf die immer komplexeren und bunteren Medien treffen, heißt es in
Digital Junkies.
Gegen Ende seines Buches, als te Wildt Grundprinzipien der Prävention von Abhängigkeiten nennt, greift er nochmal seine eingangs
beschworenen Formeln auf, dass je jünger Kinder sind, Erfahrungen mit sich selbst und der Welt nur in Spiel und durch Einsatz all ihrer Sinne machen können.
Und dazu brauche es erst einmal überhaupt keine digitalen Medien. Bleiben die Sinne geschlossen, gibt es keine Sensibilitäten, keine Neugier, keine Vielfalt,
kein Risiko. Kinder brauchen unbedingt Risiken als Genuss bringende und genussvolle Herausforderung zum Lernen. Für Kinder gilt die mitreißende Aufforderung
von Calvin, der Comic-Figur Bill Wattersons, an seinen Plüschtiger Hobbes: »Let´s go exploring.«
Mit solch einer abenteuerlustigen Einstellung erobern Kinder
auch die Sprachlandschaft – wenn nicht bestimmte und bestimmende Erwachsenen glauben, Wege der Erkundung auf glatten Bildschirmrähmchen asphaltieren zu müssen.
Wirkliche Wirklichkeit wahrzunehmen wird, so wird mittlerweile sogar von Leuten im Bildungsbetrieb propagiert, überflüssig. Die Datensammlung für die in den
Technologien versteckten Interessenten hat bereits begonnen.